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Es war im April



Tag  für Tag saß der kleine Vogel auf einem nackten Ast seines Lieblingsbaumes und schaute in den Himmel, ob wohl endlich die Sonne scheinen würde. Er wartete jeden Tag vom Morgen bis er zum Abend, bis er von all seiner Sehnsucht ganz müde wurde. -  Dann steckte sein Köpfchen schon am frühen Nachmittag  in sein noch dichtes Winterfederkleid, um einen kleinen Vogeltraum vom Frühling zu träumen.

Nun war schon wieder ein gutes Drittel des Monats vorüber, jedoch jeden Morgen, wenn er die Augen öffnete, sah die Welt wieder so grau aus, wie an allen anderen Tagen.

Das schmerzte den kleinen Vogel so sehr, dass ihm alle seine Lieder, die er so gerne singen wollte, immer mehr aus dem Gedächtnis entschwanden und er schließlich ganz traurig sein Köpfchen hängen ließ.

Was war denn nur passiert in dieser Welt? - Sie war so anders geworden. Immer noch suchte er angestrengt nach Futter, wovon sonst in dieser Jahreszeit stets schon reichlicher vorhanden gewesen war, und er dachte, wenn nicht viele Menschen an sie, die über Winter geblieben waren, gedacht hätten, dann wäre wohl mancher von ihnen verhungert.

Trotzdem aber vermisste er den Frühling sehr, denn er wollte doch schon lange damit beginnen, ein neues Nest zu bauen. - Weil er aber so sehr traurig war, wollte er erst gar nicht damit beginnen.

Eines Tages wachte er wieder auf, schaute in den Himmel und sah etwas mehr Licht als sonst,  und als er hinunter auf den Boden blickte, bemerkte er einen winzigen hellen Tupfer in dem kleinen Rasenstreifen am Haus, an dem sein alter Baum stand.

Er schüttelte sich ein wenig, um gänzlich wach zu werden und flog dann hinab, um sich diesen Tupfer im Gras einmal etwas genauer anzusehen - und dann wusste er plötzlich, dass er so etwas schon einmal in einem der vergangenen Lenze gesehen hatte.

Damals waren es ganz viele weiße Tupfer gewesen, die sich täglich vermehrten und die, wenn die Wiesen voll von ihnen waren, so gerne von
kleinen Kindern gepflückt wurden,  und es fiel ihm auch noch ein, wie eines von ihnen erfreut gerufen hatte: „Schau mal Mutti, alle die vielen süßen  Gänseblümchen!“

As es nun neben dem hellen Blumenköpfchen auf der Erde hockte und sich zu ihm herabneigte, sprach er es gleich mit seinem Namen an und piepte: „Guten Morgen,   liebes erstes Gänseblümchen,“ ich freue mich sehr, dass du da bist. -  Sage mir, bringst du uns denn nun endlich den ersehnten Frühling?“

Das Gänseblümchen schoss vor lauter Freude, so freundlich begrüßt zu werden,  ganz schnell in die Höhe, entfaltete vollends sein gelbes Köpfchen mit seinen feinen weißen  Blütenblättchen und sagte mit ganz zarter Stimme: „ Ja, auch ich bin eines der beliebten Boten des Lenzes. – Wenn du noch ein paar Tage geduldig wartest, wirst du sehen, wie bald dieser kleine Rasenstreifen von allen meinen vielen Geschwistern übersät sein wird.“

Da bedankte sich der  kleine Vogel,  flog schnell wieder zurück auf seinen Ast und zwitscherte aus voller Kehle und voller Lust und Lebensfreude,  sein  erstes helles Lied.

©
Marianne Reepen
      im April 2013