Tag für Tag saß der kleine Vogel auf einem
nackten Ast seines Lieblingsbaumes und schaute in den Himmel, ob wohl endlich
die Sonne scheinen würde. Er wartete jeden Tag vom Morgen bis er zum Abend, bis
er von all seiner Sehnsucht ganz müde wurde. -
Dann steckte sein Köpfchen schon am frühen Nachmittag in sein noch dichtes Winterfederkleid, um
einen kleinen Vogeltraum vom Frühling zu träumen.
Nun
war schon wieder ein gutes Drittel des Monats vorüber, jedoch jeden Morgen,
wenn er die Augen öffnete, sah die Welt wieder so grau aus, wie an allen
anderen Tagen.
Das
schmerzte den kleinen Vogel so sehr, dass ihm alle seine Lieder, die er so
gerne singen wollte, immer mehr aus dem Gedächtnis entschwanden und er
schließlich ganz traurig sein Köpfchen hängen ließ.
Was
war denn nur passiert in dieser Welt? - Sie war so anders geworden. Immer noch
suchte er angestrengt nach Futter, wovon sonst in dieser Jahreszeit stets schon
reichlicher vorhanden gewesen war, und er dachte, wenn nicht viele Menschen an
sie, die über Winter geblieben waren, gedacht hätten, dann wäre wohl mancher
von ihnen verhungert.
Trotzdem
aber vermisste er den Frühling sehr, denn er wollte doch schon lange damit
beginnen, ein neues Nest zu bauen. - Weil er aber so sehr traurig war, wollte
er erst gar nicht damit beginnen.
Eines
Tages wachte er wieder auf, schaute in den Himmel und sah etwas mehr Licht als
sonst, und als er hinunter auf den Boden
blickte, bemerkte er einen winzigen hellen Tupfer in dem kleinen Rasenstreifen
am Haus, an dem sein alter Baum stand.
Er
schüttelte sich ein wenig, um gänzlich wach zu werden und flog dann hinab, um
sich diesen Tupfer im Gras einmal etwas genauer anzusehen - und dann wusste er
plötzlich, dass er so etwas schon einmal in einem der vergangenen Lenze gesehen
hatte.
Damals
waren es ganz viele weiße Tupfer gewesen, die sich täglich vermehrten und die,
wenn die Wiesen voll von ihnen waren, so gerne von
kleinen
Kindern gepflückt wurden, und es fiel
ihm auch noch ein, wie eines von ihnen erfreut gerufen hatte: „Schau mal Mutti,
alle die vielen süßen Gänseblümchen!“
As
es nun neben dem hellen Blumenköpfchen auf der Erde hockte und sich zu ihm
herabneigte, sprach er es gleich mit seinem Namen an und piepte: „Guten
Morgen, liebes erstes Gänseblümchen,“
ich freue mich sehr, dass du da bist. -
Sage mir, bringst du uns denn nun endlich den ersehnten Frühling?“
Das
Gänseblümchen schoss vor lauter Freude, so freundlich begrüßt zu werden, ganz schnell in die Höhe, entfaltete vollends
sein gelbes Köpfchen mit seinen feinen weißen
Blütenblättchen und sagte mit ganz zarter Stimme: „ Ja, auch ich bin
eines der beliebten Boten des Lenzes. – Wenn du noch ein paar Tage geduldig
wartest, wirst du sehen, wie bald dieser kleine Rasenstreifen von allen meinen
vielen Geschwistern übersät sein wird.“
Da
bedankte sich der kleine Vogel, flog schnell wieder zurück auf seinen Ast und
zwitscherte aus voller Kehle und voller Lust und Lebensfreude, sein
erstes helles Lied.
©
Marianne Reepen
im April 2013