Es ist kühl geworden und Weihnachten steht kurz vor der Tür. Es ist die Zeit gekommen, ein Lichtlein anzuzünden, sich tief in den gemütlichen Sessel zu verkriechen und ganz in der Nähe der wärmenden Heizung meinem heutigen Märchen zu lauschen:
Das Märchen vom glücklosen Michel
Eines Tages faste sich der brave Michel treu und ergeben ein Herz und trat vor seinen Herrn, der ein großer, dicker und mächtiger Parteimensch und begeisterter Saumagenesser war und sagte zu ihm. Sieh, ich habe rund vierzig Jahre dir treu gedient und mit meiner Stimme stets dafür gesorgt, dass Du mächtig genug warst, viele Jahre die Geschicke meines Landes der Dichter und Denker zu lenken, nun bitte ich darum, dass Du mir von den reichlich geernteten Früchten etwas abgibst. Der mächtige Landesvater überlegte nicht lange und sagte, das er sich gegenüber dem Michel dankbar erweisen wolle und versprach ihm, das von nun an seine Rente sicher sei, wie auch seine Ersparnisse, die sich dazu noch regelmäßig und großzügig mehren sollten.
Glücklich und außerordentlich dankbar machte sich nun Michel auf seinen weiteren Lebensweg und die Last der erhaltenen Versprechen brachten ihn alsbald ins Schwitzen. Da begegnete ihm nach geraumer Zeit ein fröhlicher Reiter, der unbeschwert daher galoppiert kam. Ach hast du es gut, da oben hoch zu Ross, während mich mein Glück fast erdrückt. Der Reiter war vor Mitleid gerührt und erzählte ihm die Geschichte von diesem Euro, der in der Lage ist, sein D-Mark- wertes Glück nur halb so schwer zu machen und er bot dem Michel an, die D-Mark in Euro zu tauschen. Michel war selig und willigte in den Tausch sofort ein. Von nun an, waren das Bankkonto und die Versicherungen und die Renten nur noch halb so groß und die sonst so große Last des Glückes erschien jetzt viel erträglicher. Beide trabten nun fröhlich ihre Wege weiter. Michel war froh und stolz über sich, hatte er doch noch einen guten Tausch gemacht.
Wieder nach einiger Zeit begegnete er einem Händler, der seine Waren feil zu bieten hatte. Wie gut es dir doch geht. Hast schöne Waren an denen du dich erfreuen kannst, während ich diese nutzlosen belastenden Euros unter der heißen Sonne des Glücks mit mir herum schleppe und dann erzählte er dem Händler seine bisherige Geschichte. Dieser erkannte alsbald seine Chance und schlug dem Michel folgendes Geschäft vor: Wenn du mir für 100 Euro Waren abkaufst, für die du früher 100 D-Mark bezahlt hättest, dann verspreche ich Dir , dass die Waren nur noch halb so schwer sind. Michel erkannte diese findige Idee nicht sofort richtig, aber der Gedanke an die halbe Last ließ ihn angesichts der Temperaturen in den Handel einwilligen, zumal er sich hinterher nie beschwert hat , glaubt man dann schon, dass er glücklich gewesen ist. Auch, als später die Waren teurer wurden und seine restlichen Euros schrumpften, war immer noch seine buchstäbliche Erleichterung zu spüren.
Irgendwann kreuzte ein Bänker die Wege Michels. Beide kamen ins Gespräch und Michel klagte nun über das Dahinschmelzen seines nun mager gewordenen Eurobestandes. Der Bänker lachte und meinte, dass es ein leichtes sei, dem abzuhelfen. Daraufhin erklärte dieser die wundersame Geldvermehrung mit Anlagen und Derivaten und was es sonst noch für Geldmauscheleien gibt. Michel strahlte vor Glück und übergab all seine verbliebenen Ersparnisse, in der Hoffnung auf ein großes Vermögen. Auch erhielt der Bänker aus lauter Dankbarkeit für den guten Tipp ein reichhaltiges Geldgeschenk. Dem neuen Glück lag nichts mehr im Wege. Der Bänker machte sich sofort auf die Socken, um das Geld zu mehren, natürlich um zuerst an sich zu denken. Leider hatte er wenig Glück dabei und die Bank ging Pleite und auch das ganze restliche Vermögen von Michel. Dennoch, dem Bänker war das wenig peinlich, es war eben nur sein übliches, ja sogar normales Tagesgeschäft und oberdrein auch nicht sein eigenes Geld. Und so übergab er dem Michel statt des versprochenen Vermögens einen Schirm. Das ist der Rettungsschirm, der alle Glücklosen auffängt, wenn sie in Not geraten, damit sie weich auf der Wiese des Glücks landen können. Leider aber hatte der Herr von der Bank vergessen zu sagen, dass der Personenkreis der zu Rettenden stark eingeschränkt ist und Michel keineswegs davon betroffen sei. Michel war trotzdem froh über diesen leicht zu handhabenden Schirm auch wenn dieser fast nutzlos war. Michel war eben ein Michel, wie er sein muss, geduldig, schweigsam, loyal, niemals aufmuckend und stets fröhlich. Selbst als man ihm auf seinem weiteren Lebensweg den Monatslohn halbiert und ihm danach vorgerechnet hat, das soziale Almosen ebenfalls durchaus reichlich sind, wurde sein Leben nie aus der Bahn geworfen. Michel ist einfach und immer glücklich, das wissen auch diejenigen, die auf purem Gold gebettet sind. Nein, diese Geschichte hat keinen traurigen Ausgang.
Wenn wir den Michel mit einem vergleichen, der irgendwo auf dieser Welt ganz, ganz unten lebt, oder besser gesagt vegetiert und sich einen abgenagten Knochen mit einem Straßenköter teilen muss, ist dann der Michel nicht auch vielleicht ein klitzekleiner Millionär und hat allen Grund glücklich zu sein? Jedenfalls sehen dass die ganz oben so und die haben schließlich immer Recht.
Siegfried Winkler